Der Begriff der Utopie steht wie kein anderer für die Idee einer radikalen politischen Alternative. Eben deshalb wird utopisch landläufig als gleichbedeutend mit unrealistisch und traumtänzerisch betrachtet. Dessen ungeachtet verbinden viele mit ihm die Perspektive einer grundsätzlich anderen, gerechten und glücklicheren Gesellschaft – eine Perspektive, die sich deutlich abhebt von kleinen, eher technischen Verbesserungen der politischen und sozialen Situation.
Das Wort Utopia (griechisch für ‘kein Ort’, ‘Nichtort’) wurde von Thomas Morus (1478–1535) in die Welt gebracht. In der Form eines Reiseberichts, zugleich aber in der Tradition philosophischer Diskurse, wird dort eine bessere Staatsverfassung entworfen mit Institutionen, die ein gerechteres, friedlicheres und vernünftigeres Leben ermöglichen. Ausgangspunkt sind die konkreten Übel der damaligen englischen Gesellschaft. Morus wendet sich z.B. gegen Todesstrafe und Enclosure (die Privatisierung der Landwirtschaft). Morus war Lordkanzler Heinrichs VIII., der ihn schließlich hinrichten ließ. Andere Utopien folgten: Campanella (Sonnenstaat) setzte seine Hoffnung insbesondere auf Bildung, Bacon (Nova Atlantis) auf die Entwicklung der Wissenschaften.
All diese Utopien waren aber nicht mit der Erwartung verbunden, dass die geschichtliche Entwicklung in ihre Richtung gehen würde. Erst das fortschrittsgläubige 18. Jahrhundert kam auf diese Idee. Möglicherweise steckt darin auch eine Säkularisierung religiöser Heilsversprechen. Engels und mit ihm Marx forderten dann die “Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft”. Die Entwicklung hin zur sozialistischen Utopie sollte sich aus einer auf wissenschaftlicher Analyse gegründeten Geschichtstheorie ergeben. Hinzu kommt ein zweites: die Idee der Utopie wurde so an die Entwicklung der Produktivkräfte gekoppelt. Diese und der damit verbundene wachsende materielle Reichtum soll sie gerade ermöglichen. Älteren Utopien war dieser Gedanke fremd.
Gustav Landauer (Die Revolution, 1907), Karl Mannheim (Ideologie und Utopie, 1952) und Ernst Bloch (Geist der Utopie1918, Das Prinzip Hoffnung, 1954 ff.) vertieften das Verständnis des utopischen Denkens und erweiterten so zugleich den Begriff der Utopie. Bloch verknüpfte sie z.B. mit der Wunschvorstellung der Idylle bzw. Arkadiens, mit eschatologischen (heilsgeschichtlichen) Vorstellungen und dem Thema “Heimat”.
Unter dem Aspekt der Sprache ist Utopie deshalb nicht nur unter dem Aspekt der Begriffsbestimmung wichtig, sondern auch als ein Feld von mitschwingenden Bedeutungen (Konnotationen), das in der reichhaltigen und durchaus auch widersprüchlichen Geschichte utopischen Denkens nur gewachsen ist. Sie machen gerade seine Sprachmächtigkeit aus.
Dieser Beitrag von Klaus erscheint beim ersten Lesen nicht sonderlich spektakulär und auch nicht reich an Neuigkeiten, doch beim genaueren Überdenken komme ich schon zu dem Schluss: Dieser Text hat es in sich.
Im vorherigen Blogbeitrag von Sabine wurde die politische Besetzung des Begriffs Cross-over durch Linke erörtert, und am 23. Dezember dieses Jahres schrieb Felix Stephan im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung unter der Überschrift „Wir sind die Beschleunigung!“ und dem Untertitel „’Akzelerationismus‘: die jüngste antikapitalistische Bewegung will das System mit seinen eigenen Waffen schlagen“. Auch andere Medien beschäftigen sich in diesen Tagen mit dem „Beschleunigungsmanifest für eine akzelerationistische Politik“.
Einmal abgesehen davon, dass ich dieses Manifest für sehr lesens- und bedenkenswert halte, frage ich nach der Halbwertszeit neuartiger Begriffe wie eben beispielsweise Cross-over und Akzelerationismus, die von Linken ins Spiel gebracht werden. Nun mag es Sache des Konsumwachstums um des Profit Willens und der dem dienenden Werbung sein, ständig etwas „Neues“ anzupreisen: Wirf weg und Kauf! Für politische Strategien halte ich diese Neuerungssucht und den ständigen Wechsel der Moden für schädlich. Zielführender scheint mir, geläufige Begriffe zeitgemäß zu besetzen (auch immer wieder aufs Neue) und sie gegebenenfalls aus- und umzudeuten. Verrückterweise verstehen sich die Konservativen wie Neoliberalen auf derartigen Umgang mit Sprache zur Hinlenkung breiter Massen in ihre Zielrichtung ziemlich gut.
Somit halte ich die recht kompakte historische Betrachtung von Klaus zum Utopiebegriff für eine ausgezeichnete Anregung, beispielhaft darüber nachzudenken, wie das schöne alte und in seiner langen Geschichte bedeutungsmächtig gewordene Wort Utopie für die alten und im Kern noch nicht erreichten Ziele der Linken dienlich sein könnte.
Was Utopien sprachlich wirkungsvoll macht, sind die „mitschwingenden Bedeutungen“ und Vorstellungen, die sie transportieren, als radikale Alternative zum Bestehenden – wie es Klaus in seinem ideengeschichtlichen Rückblick nahelegt. Und wenn es um Utopien in unserer heutigen Zeit geht, würde ich – ganz im Sinne von Reinhard – nach den wesentlichen Zielen und nicht nach modisch-attraktiven Bezeichnungen fragen.
Wie könnte eine linke Utopie heute aussehen? Die immer wiederkehrenden Vorstellungen eines gerechteren, friedlicheren und vernünftigeren Lebens erscheinen unverändert aktuell, doch auf welcher Grundlage wären sie zukunftsfähig? Die zuletzt entwickelte sozialistische Utopie gründete sich auf die Entfaltung der Produktivkräfte und wachsenden materiellen Reichtum – ein Modell, das schon angesichts begrenzter natürlicher Ressourcen nicht mehr denkbar ist, ganz abgesehen von der Problematik einer zentralistisch organisierten Gesellschaft.
Es geht also um einen radikalen Neuentwurf, und hierzu hat Elmar Altvater in seiner Analyse „Utopie statt Sachzwang“ (Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2013) zwei interessante Leitbegriffe geliefert: Allein eine „solarische“ (auf erneuerbare Energien gegründete) und „solidarische“ Gesellschaft kann heute als Idee in die Zukunft weisen.