Idylle (Arkadien, Goldene Zeit)

Mit Idylle verbinden wir auf den ersten Blick keinen großen politischen Entwurf. Im Gegenteil denken wir dabei eher an unpolitische bürgerliche Behaglichkeit und Zufriedenheit. Das war nicht immer so. Als Arkadien oder Goldene Zeit gehörte sie lange zu den prägenden Wunschvorstellungen der europäischen Geschichte, vergleichbar der Utopie, aber von ganz anderer Art.
Ursprünglich steht die Bezeichnung Idylle (wörtlich bedeutet sie (gr.) Bildchen) für eine Dichtungsgattung, nämlich die heute fast vergessene Hirtendichtung. In dieser kommt ein einfaches, friedliches ländliches Leben voll Muße und mit viel Zeit für Liebe und Kunst zur Darstellung. Einzig das “Schäferstündchen” hat sich davon noch in einem breiteren Bewusstsein erhalten. Geschaffen wurden diese Fiktionen im 3. Jhdt. v. Chr. von Theokrit, fortgeführt in den Eklogen Vergils (42 v.) , wieder aufgenommen in der Renaissance: Sannazaro (1450), Tasso(1580), Sidney (1590) … und von da an eine wirkungsmächtige Idee in der europäischen Geistesgeschichte.

Räumlich wird die Idylle oft in Arkadien, zeitlich in einem vergangenen Goldenen Zeitalter angesiedelt. Arkadien, in Wirklichkeit eine karge Gegend auf der griechischen Peloponnes, wurde seit Vergil zu einem literarischen Traumland eines idealisierten Hirtenlebens. Bereits im 7./8. Jdht. v. Chr. schrieb Hesiod von der Zeit des Kronos (gr., lat. Saturn), in dem die Menschen friedlich lebten – in Eintracht mit Göttern und Tieren (häufig, aber nicht immer wird die Goldene Zeit als vegetarisch gedacht) ohne mühselige Arbeit, frei von Krankheiten und mit einem sanften, angstfreien Tod. Diese Zeit, teilweise aber auch schon die klagende Erinnerung an sie, wird zum zentralen Thema der Hirtendichtung. Damit deutet sich an, was die Faszination dieser Idee und Dichtungsgattung ausmachte. Es ist ein Gegenbild zu der oft bedrückenden Realität der Schreiber und Leser. Ihre Bedeutung und Anziehungskraft lässt sich gerade erst aus dem verstehen, was in ihnen nicht dargestellt wird. Eben dieses Fehlen ist der Inhalt. So der Frieden als das “Fehlen” des Krieges. Die erste Blütezeit deutscher Idyllen war der dreißigjährige Krieg. Friedrich Schiller bestimmt (in “Naive und sentimentalische Dichtung”, 1796) diese Haltung der Sehnsucht aus der Entbehrung als “sentimentalisch” und sieht folgerichtig die Idylle oder Hirtendichtung als ein Paradigma sentimentalischer Dichtungsart an.

Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts lässt der Zauber dieser Idee nach, die Jahrhunderte in ihren Bann schlug. Der Begriff der Idylle wandelt sich. Nur kleinräumig und individuell ist diese Glücksvorstellung noch denkbar und so wird sie dann auch von Jean Paul im §73 seiner Vorschule der Ästhetik als “Vollglück in der Beschränkung” bestimmt. Eine Wunschvorstellung noch immer, aber unter Verzicht auf eine umfassende oder gar politische Perspektive. Das 19. Jhdt. bringt aber in seinem Verlauf noch eine andere, in gewissem Sinn entgegengesetzte Wendung des Idyllenbegriffs. Obwohl dieser im Kern eine Fiktion beschreibt, deren Realisierbarkeit schwer vorstellbar ist, wurde diese dann doch versucht, z.B. in den Ausstiegsversuchen um 1900. Der Monte Verita am Lago Maggiore als erster größerer und beachteter Versuch alternativen Lebens wurde als Ort ausdrücklich auch wegen der arkadisch anmutenden Landschaft gewählt. Und viele der gegenwärtigen Alternativentwürfe zeigen, ohne dass es den Protagonisten immer bewusst wäre, mehr Verwandtschaft mit der idyllischen Tradition als mit der im engeren oder eigentlichen Sinn utopischen.

Sucht man heute im Web nach “Idylle” so findet man nichts über die Hirtendichtung, sondern Urlaubsangebote und ahnt, dass immerhin in den Urlaubswünschen einer Vielzahl von Zeitgenossen die arkadische Tradition fortlebt.

Idylle und Utopie

“Auch sanft lässt sich wünschen …” Mit diesen Worten beginnt Bloch (in: Arkadien und Utopien, 1968) die Einordnung Arkadiens in die Tradition utopischen Denkens, wohl wissend, dass es sich um eine ganz andere Art der Utopie handelt. Beide teilen den Charakter des Gegenbildes zur bestehenden Gesellschaft, aber im Einzelnen gibt es deutliche Unterschiede:

  • Anders als die Utopie verbessert die Idylle keine Institutionen, sondern verzichtet auf sie. Es gibt keinen Staat, keine Schulen, Gefängnisse, Armeen und daher auch keine Kriege. Ohne selbst anarchistische Ideen zu verbreiten, kommt sie diesen damit doch entgegen.
  • Während die Utopien große Mühen auf die gerechte Verteilung der Arbeit verwenden, kommt die Arbeit, zumindest als entfremdete, in den Idyllen nicht vor, weshalb sie als Orte des Müßiggangs wahrgenommen werden.
  • Das Leben ist einfach, in heutigen Kategorien könnte Arkadien als ein Land ohne Wachstum bestimmt werden.
  • Die Bedürfnisse in der Utopie sind grundlegende und lebenswichtige: Nahrung, Kleidung, Wohnung. Deren Erfüllung wird in den Idyllen kaum thematisiert, dagegen Liebe, Kunst, Naturschönheit – also eher Wunschwelten als basale Bedürfnisse.
  • Rationalität, nicht als bloß technische, sondern politisch-praktische konstituiert die Utopie. Die Idylle malt das gewünschte Leben aus, ohne sich um Rechtfertigung oder Realisierbarkeit zu kümmern.
  • Nicht zufällig wird die Idylle, anders als die Utopie, der Vergangenheit zugeordnet. Aus ihr erwächst eher als eine politische Forderung die Klage über ihren Verlust. Es sei denn man stellt sich die “Aufgabe einer Idylle, welche jene Hirtenunschuld auch in Subjekten der Kultur und unter allen Bedingungen des rüstigsten feurigsten Lebens, des ausgebreitetsten Denkens, der raffiniertesten Kunst, der höchsten gesellschaftlichen Verfeinerung ausführt, welche, mit einem Wort, den Menschen, der nun einmal nicht mehr nach Arkadien zurück kann, bis nach Elysium führt.” [Schiller, Naive und sentimentalische Dichtung]
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