Was die Sprache des Koalitionsvertrags uns verrät

Bei der Lektüre einiger Ausschnitte des Koalitionsvertrags habe ich folgende Beobachtungen gemacht:

  1. Die Verfasser gehen von unbefragten, m. M. nach falschen Voraussetzungen aus, stellen pure Behauptungen in den Raum
  2. Das vorherrschende sprachliche Prinzip ist: Verwendung von Substantiven anstelle von Verben, was zur Entstehung von Wortungetümen führt
  3. Nicht Verbesserungen im Realen, sondern Konzepte, Datenbanken, Evaluationen werden angestrebt
  4. Substantive sind falsch zusammengesetzt/Inadäquates wird in einem Atemzug genannt
  5. (Absichtsvoll) Gemachtes wird als Naturgegebenes, daher unbefragt Hinzunehmendes präsentiert

(wobei diese Punkte nicht säuberlich voneinander zu trennen sind)

Ad 1: Unbefragte Voraussetzungen und pure Behauptungen

Wachstum wird mit Selbstverständlichkeit als Ziel vorausgesetzt

Zitat: „Wir sehen mit Sorge die zunehmende Zahl von Maßnahmen, mit denen der freie Handel begrenzt oder sogar verhindert wird. Auch die wachsenden Verstöße gegen die Regeln des WTO erfüllen uns mit Sorge.“ – wer behindert? wer greift zu Maßnahmen? wer verstößt? – Solch eine „Sorge“ ist offenbar Vorleistung für den Erfolg der TTIP-Verhandlungen; zum Beweis Zitat: „Erfolg der TIPP-Verhandlungen wird angestrebt“, und auch noch: „zügig“

Zitat: „Ein freier und fairer Welthandel muss im Rahmen der WTO verlässlich geregelt werden“ – ob freier Handel fair ist, ist gerade die Frage

Zitat: „Einbeziehung der Entwicklungsländer in das globale Handelssystem nach Grundsätzen, die für alle Beteiligten gleichermaßen gelten“ – ist es fair, wenn gleiche Regeln für Löwe und Ameise gelten?

„Fortentwicklung von PPP braucht breiten gesellschaftlichen Konsens“ – PPP ist einfach da, sei segensreich, kostensparend – Konsens sei also herzustellen

Ad 2: Subjekte verschwinden; Wortungetüme entstehen

Zitat: „Wir wollen bei ihrer (der Energiewende) Umsetzung Bezahlbarkeit, Versorgungssicherheit und Umweltverträglichkeit miteinander in Einklang bringen“ – Wer soll in den Genuss dieser löblichen Ziele kommen? = Subjekt wird eliminiert

Zitat: „…benötigt der Tourismus ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis, Qualität und Freundlichkeit im Service und weitere Anstrengungen mit Blick auf die Barrierefreiheit“ = Tourismus als Agens; weiteres Zitat: „Gastgewerbe muss sich um verbesserte Ausbildungsanstrengungen bemühen“ – s.o.

Zitat: „Personengruppe langzeitarbeitsloser Menschen, die nur mit Unterstützung Teilhabe und Integration am Arbeitsmarkt finden“ – Wie sollen sie „Teilhabe und Integration finden“ – sind diese Dinge auffindbar oder nicht vielmehr aktiv zu gestalten?

Zitat: „Die Steuerung der Grundsicherung für Arbeitssuchende soll verstärkt auf das Ziel „Vermeidung von Langzeitleistungsbezug“ und die Mittelverteilung stärker auf Wirkungsorientierung ausgerichtet werden. Dabei ist auch der bisherige Problemdruckindikator als Verteilungsmaßstab auf den Prüfstand zu stellen.“ – hier wird’s grotesk!

Ad 3: Nicht Verbesserungen im Realen, sondern Konzepte, Datenbanken und Evaluationen

Zitat: „Fördermöglichkeiten für die Kultur- und Kreativwirtschaft (höchst fragwürdige Begriffe! B.S.) sollten in einer Datenbank dargestellt werden“ – es geht nicht um Verbesserungen im Realen, sondern um verbesserte „Darstellung“

Zitat: „Wir begrüßen entsprechende Aktivitäten der Wissenschaftsorganisationen und werden deren Bemühungen durch eine Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes flankieren“ – Kommentar erübrigt sich!

Zitat: „Die Methodik der Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen werden wir evaluieren und standardisieren.“ – s.o.

Ad 4: Inadäquates in einem Atemzug

als „immaterielle Werte“ werden genannt: „Familie, Freunde, Freiheit“

„Dialog mit Bürgern“ wird „durchgeführt“; einbezogen werden soll: „die vorliegenden Gutachten und Indikatorensysteme, z.B. der entsprechenden Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages und des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ – unter diesen Voraussetzungen ist ein lebhafter Dialog zu erwarten!

„persönliche Vermittlungshemmnisse“ als Hinderungsgrund für den Zugang zum ersten Arbeitsmarkt – damit wird Arbeitslosigkeit vom strukturellen Problem zum personenbedingten gemacht

Ad 5: Absichtsvoll Gemachtes als unbefragt Hinzunehmendes

Zitat: „…werden wir ein Indikatoren- und Berichtssystem zur Lebensqualität in Deutschland entwickeln“ – Lebensqualität ist einfach da; was fehlt: Indikatoren- und Berichtssystem

der Anteil von befristeten Beschäftigungsverhältnissen hat „ein Maß erreicht, das Handlungsbedarf entstehen lässt“ – woher kommt das hohe Maß?; wer soll handeln?

Zitat: „Die Fortentwicklung von PPP braucht einen breiten gesellschaftlichen Konsens“ – wieso soll PPP sich fortentwickeln? erst wenn das geklärt wäre, könnte man Konsens anstreben

Langzeitarbeitslose sollen „passgenau qualifiziert werden“ – wozu sollen die Menschen denn passen? = glatte Entmenschlichung

„arbeitsmarktferne Personen“ – Arbeitsmarkt ist Zentrum, Menschen haben sich darum zu gruppieren

Eine Studie der Universität Hohenheim zur formalen Verständlichkeit des Koalitionsvertrages bescheinigt ihm eine Verständlichkeit von 3,48 auf einer Skala von 0 (völlig unverständlich) bis 20 (sehr verständlich).

Da stellt sich nun die Frage: Warum haben es die Verfasser des Vertrages gar nicht mehr nötig, verständlich oder gar überzeugend zu sein???

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