Nachdenken über die Begriffsinhalte von Liberalismus/Neoliberalismus

Beitrag von Brigitte Sändig
(kein ausformuliertes Papier, sondern Gedankensplitter)

Ich halte die Verwendung des Begriffs „Liberalismus“, ergänzt durch die Vorsilbe „Neo“, für einen infamen Euphemismus zur Bezeichnung der nunmehr eingetretenen Allmacht des Ökonomischen; meine Gedanken gehen in die Richtung einer Verteidigung des Liberalismus gegen den „Neoliberalismus“

Warum liegt mir der Liberalismus am Herzen?

Er war/ist in meinen Augen eine politische Errungenschaft, u.a. der Französischen Revolution, mit der Republik, Freiheit, rechtliche Gleichheit eingefordert und verteidigt wurde

Mit dem bedeutendsten Denker und Verteidiger des Liberalismus in Frankreich, Benjamin Constant (1767 – 1830), habe ich mich eingehend beschäftigt: Für Constant war die ökonomische Freiheit eine unter anderen; er stritt für die Verwirklichung von Freiheit des Individuums auf allen Gebieten (Politik; Handel; Kunst; Religion)

Ein ähnliches Denken findet sich am Ende des 20. Jahrhunderts bei dem amerikanischen Sozial- und Moralphilosophen Michael Walzer, Spheres of justice; diese „Sphären“ sind für Walzer: Mitgliedschaft und Zugehörigkeit, Sicherheit und Wohlfahrt, Geld und Ware, Erziehung und Bildung, Anerkennung und politische Macht; nach Walzer müssen – zum Zwecke einer gerechten Verteilung – die verschiedenen Verteilungssphären klar gegeneinander abgegrenzt sein und alle Güter gemäß ihrer gesellschaftlichen Bedeutung zugeteilt werden

(Grund meiner persönlichen Beteiligung an diesem Thema: in DDR-Zeiten, in denen alles über Ideologie abgerechnet wurde, gab mir die Bekanntschaft mit den Überlegungen von Constant und Walzer Ermutigung und Auftrieb – deshalb reagiere ich besonders allergisch auf die Indienstnahme des Liberalismus durch die Neoliberalen)

Drei (unterschiedliche) Definitionen von „Liberalismus“:

  1. weltanschauliche Richtung, die das Individuum und sein Recht auf Freiheit stark macht – das bedeutet auch: geringst mögliche Einmischung des Staates in öffentliche und private Angelegenheiten (= Verhältnis Individuum – Staat/Gesellschaft);
    „Einmischung des Staates“ im Sinne sozialen Interessenausgleichs findet allerdings nicht statt; jedoch: Staat ist durchaus zu massivem Vorgehen gegen diejenigen bereit, die die Interessen der Global Players oder der Neo-Konservativen in Frage stellen – Beispiele: Johannes Lichdi zum Vorgehen der Polizei in Dresden im Februar 2011: „Versammeln und Demonstrieren“; NSA; Umgang der europäischen Demokratien mit dem „Fall“ Snowden
     
  2. Doktrin, nach der die ökonomische Freiheit, das freie Spiel der Unternehmen nicht beeinträchtigt werden darf (= Ökonomie); d.i. neoliberale Definition des Liberalismus 
  3. Respektvolle Haltung gegenüber der Unabhängigkeit und den Meinungen des Anderen (= moralische Verhaltensfrage); diese liberale Definition menschlichen Verhaltens widerspricht voll dem neoliberalen Umgang mit den Menschen

Dreh des Neo-Liberalismus: nur Definition Nr. 2 wurde herausgelöst und zu absolutem Prinzip gemacht,

doch Liberalismus im eigentlichen Sinne kann nie auf ein absolutes Prinzip ausgerichtet sein;

demzufolge ist der sogenannte „Neo-Liberalismus“ eine Verkehrung, eine Perversion des liberalen Prinzips;

und: durch den Absolutheits-Anspruch des Ökonomischen entstehen totalitäre Strukturen
 
So spricht
Carl Amery in Global Exit. Die Kirchen und der totale Markt von „totalem Markt“, von einem „mammonistischem Zentrum“, von der „Atropie des Nichtökonomischen“; für Amery ist die neoliberale Ideologie demzufolge eine „neoliberale Theologie“, eine „Reichsreligion“ (diese Aussagen mit Bezug auf Walter Benjamins Aufsatz „Kapitalismus als Religion“); der Markt übernimmt, so Amery, eine „ungeheure seelsorgerische Wirkung, die bis zur Entsorgung von Seele überhaupt geht“

Hans-Jürgen Fischbeck spricht von „monetärem Totalitarismus“

Ich selbst habe 1995, nachdem die Wende-Euphorie verraucht war, geschrieben: „Neue oder anders motivierte Gefährdungen werden dem früher und nun wieder kritischen Beobachter bewußt: der ‚monetäre Totalitarismus‘, die Tatsache, daß Geld zur Verrechnungsgröße für alles, für sämtliche Dinge, Werte, Situationen, wird, sowie die Ansicht, daß Anpassung an diese Entwicklung die einzige angemessene Lebensklugheit sei.“

Kennzeichen des neoliberalen (meiner Meinung nach: zum Totalitären hinstrebenden) Zustands:  

  • Staat tritt aus seiner Rolle des Interessenausgleichs heraus; er bedient nunmehr die Interessen der Global-Players, für die die Gesetze der Allgemeinheit nicht gelten; andererseits wird er – mit hochentwickelten Kontrollmechanismen – zur Kontrollinstanz für alles dagegen Gerichtete 
  • ein neuer Menschentyp entsteht: er ist der ökonomischen Macht absolut verfügbar und dienstbar; die artgeschichtliche Verwandtschaft aller Menschen (die auch Flüchtlinge, Obdachlose einschließt) entzieht sich vollständig seinem Verständnishorizont 
  • Philosophie der individuellen Freiheit wird eingesetzt zur Rechtfertigung der Ungleichheit (die bekanntlich wächst) und der Gewalt der etablierten Ordnung

(die Liste kann verlängert werden)

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Eine Antwort zu Nachdenken über die Begriffsinhalte von Liberalismus/Neoliberalismus

  1. Theo Krönert schreibt:

    Danke Brigitte Sändig!

    Auch für mich ist „Neoliberalismus“, was Du unter 2. beschreibst. Zitat:

    „2. Doktrin, nach der die ökonomische Freiheit, das freie Spiel der Unternehmen nicht beeinträchtigt werden darf (= Ökonomie); d.i. neoliberale Definition des Liberalismus.“

    Und ich unterstreiche, wie Du auch – Zitat:

    „demzufolge ist der sogenannte „Neo-Liberalismus“ eine Verkehrung, eine Perversion des liberalen Prinzips;

    und: durch den Absolutheits-Anspruch des Ökonomischen entstehen totalitäre Strukturen.“

    (Zitat Ende.)

    Und diese totalitären Strukturen machen möglich, was ich so besinge (kostenlos anzuhören unter http://www.rrreiche.de/rrreiche/index.php?site=milliardenspiel):

    Milliardenspiel

    Wenn du Milliarden hörst,
    was geht dir durch den Kopf
    Denkst an die Pleite
    Fühlst dich als armer Tropf
    Denn aus dem Schuldschein
    Haben sie Geld gemacht
    Und das hat viele
    In den Ruin gebracht

    Du wirst dich fragen, wo die Milliarden sind?
    Du wirst dich fragen, wo geh’n die Zinsen hin?
    Da wo die Tauben sind,
    Da fliegen Tauben hin
    So läuft das Spiel der Welt
    Und wo Milliarden sind
    Da gehn Milliarden hin
    Denn Geld regiert die Welt

    Ja beim Milliardenspiel, da gibt’s ein großes Ziel:
    Jeder will dabei der Allergrößte sein
    Ja beim Milliardenspiel, da haben sie ein Ziel:
    Alle woll’n für sich die ganze Welt allein.

    Sie sind getrieben, sie kriegen nie genug
    Sie haben Ängste, drum machen sie Betrug
    Da wo die Tauben sind,
    Da fliegen Tauben hin
    So läuft das Spiel der Welt
    Und wo Milliarden sind
    Da gehn Milliarden hin
    Denn Geld regiert die Welt
    Sie wollen oben sein, oben sein, oben sein
    Wollen nicht untergehn, untergehn, untergehn
    Denn was da unten ist, unten ist, unten ist
    Macht ihnen Angst, sie können sowas nicht verstehn

    Da wo die Tauben sind,
    Da fliegen Tauben hin
    So läuft das Spiel der Welt
    Und wo Milliarden sind
    Da gehn Milliarden hin
    Denn Geld regiert die Welt

    Dieser Text deutet schon an, was schon seit Urzeiten noch in uns allen steckt:
    Die Angst, zu kurz zu kommen oder gar unterzugehen.

    Diese unbewusste Angst habe ich übrigens auch besungen – hier:
    http://www.rrreiche.de/rrreiche/index.php?site=primatenlied

    Und damit möchte ich darauf hinweisen, dass die Verführungen des Konsumismus fatalerweise unserem evolutionär entstandenem Wesen durchaus entsprechen. Für mich sieht also nur so aus, was Du noch anführst, Brigitte, nämlich (Zitat):

    „ – ein neuer Menschentyp entsteht: er ist der ökonomischen Macht absolut verfügbar und dienstbar; die artgeschichtliche Verwandtschaft aller Menschen (die auch Flüchtlinge, Obdachlose einschließt) entzieht sich vollständig seinem Verständnishorizont.„

    Ja, sieht so aus. Aber das ist kein neuer Menschentyp. So waren wir schon immer. Nur gibt es nun neue Möglichkeiten, um das auszuleben. (Und daran zu krepieren.)

    Erst wenn wir uns das rückhaltlos eingestehen würden, wäre eine Änderung in Sicht.
    Aber wie es dazu kommen könnte, das weiß ich auch nicht.

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