Wie kommt es, „dass die europäische Krise als Zweipersonendrama gezeigt wird, als Showdown zwischen dem dauerbeleidigten Herrn Schäuble und dem unverfrorenen Herrn Varoufakis“? So fragt Thomas Assheuer in seinem Artikel „Vom Euro erschlagen“ (Zeit v. 28.5.15) und enthüllt – mit dem Szenario eines Theaters – was sich hinter Kreditforderungen und Sparzwang verbirgt: das Ringen zwischen nationaler Souveränität und Brüsseler Durchsetzungsmacht.
Sicher ist uns das Demokratieproblem in Europa nicht neu, doch gerade beim Thema Griechenland oder Spanien wird es von der Debatte um neoliberale Finanzpolitik und Sozialabbau überlagert. Und Assheuer führt phantasievoll vor, wie diese Aspekte zusammenhängen. Hier zwei Auszüge:
# Die in großer Eile durchgesetzte Euro-Rettungspolitik schneidet tief ins Fleisch der nationalen Souveränität, vor allem das berüchtigte „Dreigestirn“, die Troika aus Internationalem Währungsfonds, der Europäischen Kommission und der Europäischen Zentralbank. Was sie an Reformen durchsetzt, besitzt die Wirkung von Gesetzen, und deshalb war die Troika verhasst: Sie erschien als Souverän über dem Souverän, gleichsam als Brüsseler Implantat im nationalen Parlament. Gerade nationalstolze Konservative empfanden die Interessenvertreter der Geldgeber als demütigend. Die Troika, so der ehemalige Vizepräsident der EU-Kommission Günter Verheugen, „hat Athen wie eine Außenstelle Brüssels“ behandelt. „Cash gegen Reformen“ – dieses erpresserische Programm sei „gescheitert“.
# Syriza und Podemos sind die Geister, die die Euro-Rettungspolitik gerufen hat. In ihren Augen ist Deutschland die treibende Kraft hinter einer Sparpolitik, die große Banken vor dem Untergang bewahrt und kleine Leute darben lässt. Kaum anders ist das Souveränitätstheater zu erklären, das gerade zur Aufführung kommt. „Wir wollen eine souveräne Regierung und keine Kolonialregierung unter Angela Merkel“, ruft Pablo den Spaniern zu, während sich die griechische Regierung mit einer nervtötenden Droh- und Verhandlungstaktik gegen eine erdrückende Übermacht zur Wehr setzt, um die Aufgabe ihrer nationalen Souveränität so teuer wie möglich zu verkaufen.
Dieses Souveränitätstheater ist nicht einfach links; es ist linksnational, es spielt mit antieuropäischen Ressentiments und hat keine Scheu, schlagende Verbindungen mit nationalen Rechten einzugehen. Der gemeinsame Gegner ist stets „la casta“ , die politisch-ökonomische „Kaste“ in Brüssel.
Und welche Schlussfolgerung zieht Assheuer? Ein in Arm und Reich, Nord und Süd geteiltes Europa, ein neoliberaler Großraum mit breiten Durchgriffsrechten für die Brüsseler Zentrale, all dies treibt die Wähler zurück in die nationale Wagenburg. So könnte nicht nur der schwer lösbare Konflikt zwischen nationaler Souveränität und EU-Interessen die Union zerreißen, sondern auch ihre soziale Spaltung. Gegen diese Spaltung kann man etwas tun, meint der Autor, zum Beispiel mit einem europaweiten Pakt für Wohlstand und Wachstum, wie das amerikanische „New Deal“.
Doch wie wäre der Souveränitätskonflikt zu lösen? Assheuer argumentiert wieder mit einem Bild: Gern wird Europa mit einem Karren verglichen, der in der Mitte eines Flusses feststeckt. Soll man den Karren nach hinten herausziehen, zurück ans sichere Ufer des Nationalstaates beziehungsweise in ein Währungssystem, das den Ländern wieder mehr Entscheidungsspielraum einräumt? Oder kann man den Karren nach vorn ans andere Ufer ziehen, zu einer gemeinsamen Steuer-, Wirtschafts- und Sozialpolitik, auf dass nie wieder eine Nation über ein andere regiere?
Beide Vorstellungen (die eine von Wolfgang Streeck, die andere von Jürgen Habermas) hält Assheuer für unrealistisch. Welchen Weg aber sollte Europa gehen? Die Antwort darauf bleibt der Autor schuldig, doch sein Souveränitätstheater regt dazu an, nicht nur weitere Tragödien sondern Szenarien für eine gemeinsame Zukunft durchzuspielen.